Die Zeit vergeht. Aber sie geht nicht spurlos an uns vorbei. Irgendetwas passiert immer – mit uns. Es sind klitzekleine Kleinigkeiten, die uns vielleicht nie aufgefallen sind. Aber plötzlich ist der Zeitpunkt da. Sie springen ins Auge und lösen eine Lavine aus – eine Kette von Ereignissen. Eines provoziert das andere. Hätte ich mir nie ein Pferd gekauft, wüsste ich vermutlich nicht, was es bedeutet, einen Spiegel zu haben – einen Spiegel meiner Stimmungen, eine Reflexion meiner Seele. Hätte ich keine Kinder, wüsste ich vermutlich nicht, wie bedingungslos man lieben kann, wie verletzlich man sein kann, wie glücklich.
„Nichts ist so beständig, wie der Wandel.“ (Heraklit von Ephesus)
Ob wir wollen oder nicht: Wir verändern und mit jedem Ereignis, auf das wir treffen – oder das uns trifft. Manches tangiert uns nur, ein anderes trifft voll ins Schwarze. Veränderung bedeutet auch Abschiednehmen: Good-Bye-Sagen zu alten Gewohnheiten, Durchbrechen von Mustern, Loslassen von Dingen, die uns nicht gut tun. Manchmal ist Abschiednehmen auch nur der Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt.
Seit ich die Osteopathieausbildung mache, habe ich nicht nur viel über Pferde gelernt, sondern auch über mich. Ich bin viel weniger duldsam, als ich es früher war. Ich nehme weniger als gegeben hin, sondern frage, wie ich mich dabei fühle. Was möchte ich wirklich? Wie kann ich das erreichen?
Madeira und ich fanden in dem Stall zusammen, in dem ich meine ersten Lektionen als Reiterin erfuhr. Schon nach relativ kurzer Zeit fühlte ich mich dort eingeengt. Ich hatte niemanden, der mir helfen konnte, meinen Weg mit Madeira zu finden. Von Jetzt auf Gleich zog ich los, um meiner Stute ein neues Zuhause zu suchen. Spontanität scheint bei mir die größten Erfolge nach sich zu ziehen, denn wir wurden im Nachbarort fündig. Ich hatte kaum ein Bein auf den Hof gesetzt, als klar war, dass wir dorthin gehen werden. Endlich hatte ich genug Raum – nicht nur Platz – mein Pferd kennen zu lernen, Vertrauen aufzubauen und herauszufinden, woran wir beide Spaß haben. Es war ein behagliches, kuscheliges Zuhause, das mir aber inzwischen zu eng geworden ist. Nach drei Jahren ist es an der Zeit, den Anhänger rauszuholen und weiterzuziehen.
Mein Problem mit der Angelegenheit ist, dass Madeira jedesmal quitschnass vom Hänger kommt, nachdem wir irgendwohin gefahren sind. Woher das kommt, weiß ich nicht. Es wird gemutmaßt, dass sie Angst hat, irgendwo „abgesetzt“ zu werden. Was auch immer der Grund ist – zum nächsten Hof ist es zu weit zum Reiten. Ich würde mit ihr auch gern zu Seminaren fahren. Das geht so aber nicht. Deshalb habe ich viel gelesen, Videos angeschaut und mit anderen Pferdemenschen gesprochen. Der Plan war schnell erdacht: Pferd in den Hänger, den Aufenthalt dort nett gestalten und wieder aussteigen. Das alles solange wiederholen, bis es keine Angst mehr hat. Dann kann eine kleine Tour gestartet werden, an deren Ende sie feststellen kann, dass sie nicht alleine ist, weil ich nach wie vor an ihrer Seite bin. Soweit der Plan.
Wie sag‘ ich’s meinem Kinde?
Heute empfahl mir eine Kommilitonin, mit meinem Pferd zu reden: ihm zu erzählen, dass es umziehen wird, dass ich bei ihm bleiben werde und für es da bin. Gesagt, getan. Ich bin also nach dem Kurs zum Stall, habe mein Pferd zum Spazierengehen geschnappt: „Madeira, wird müssen reden.“ Du glaubst es nicht: Mir war schlecht vor Angst. Kann man sich das vorstellen, dass ich Angst hatte, meinem Pferd zu erzählen, dass sie umziehen wird? Ich hatte voll das schlechte Gewissen, Madeira nicht schon früher einbezogen zu haben. Ist das jetzt bekloppt? Übertreibe ich? Steigere ich mich in etwas hinein?
Wie auch immer. Mir war schlecht. Ich hatte das Gefühl, mein Pferd wie einen Kleiderschrank behandelt zu haben. Dem sagt man ja auch nicht: „Stell‘ dich bitte darauf ein: In der nächsten Woche wirst du zwei Straßen weiter aufgestellt. Es ist dort zwar etwas dunkler als hier, aber viel trockener.“ Wie kann ich partnerschaftliche Zusammenarbeit erwarten, wenn es an Offenheit fehlt? Ich habe mich schwer getan loszulegen. Madeira war voll damit beschäftigt, das frische Grün abzurupfen. Schon fast hektisch riss sie an Gras und Kräutern – und ich quatschte auf sie ein. “ Was sagst du denn dazu?“ Keine Antwort, hektisches Weiterrupfen. Ich habe sie also weiter zugequatscht und auf eine Reaktion gewartet. Irgendetwas muss das Pferd doch dazu sagen. Ich überwinde mich, erzähle alles, und sie frisst einfach weiter? Bin ich so uninteressant? Dramatisiere ich? Mist! Irgendwann hob sie den Kopf und flämte. Das hat sie noch nie getan. War das die Antwort, auf die ich gewartet hatte oder saß ihr einfach nur ein Pups quer? Ich werd’s wohl nie erfahren.
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